Schuld an allem hat Karl May. Oder meine Mutter? Oder doch Karl May? Die
ultimative Klärung der Frage, wer jetzt wirklich dafür verantwortlich ist, daß ich BDSM
betreibe, überlasse ich der Nachwelt. An drei oder vier Schlaglichter aus meiner
kindlichen und pubertären Zeit kann ich mich erinnern, die alle etwas mit der Lust am
Quälen und der Lust am (Er)Leiden zu tun haben. Da ist meine Mutter, die mich als Kind
oft und übermäßig schlug, mit der von mir damals schon als äußerst unglaubwürdig
empfundenen Begründung, sie tue dies nur, weil sie mich lieb habe, was aufgrund der
willkürlich gesuchten und dann auch gefundenen Anlässe meiner Bestrafung tiefen Argwohn
in mir auslöste. Da waren die Bücher von Karl May, dessen detaillierte Schilderungen von
Qualen an indianischen Marterpfählen und morgenländischen Bestrafungen mit der
Nilpferdpeitsche durchaus erregende Schauer über den präadoleszenten Rücken huschen
ließen. Da war ein Nachbarsjunge, mit dem das imaginäre Piratenspiel das eine oder
andere Mal zu einer blutigen Racheorgie an Eltern und Lehrern wurde, denen genüßlich
verschiedene Gliedmaßen in der Phantasie abgetrennt wurden. Da war schließlich der gut
sortierte Bücherschrank meines Vaters voll mit Werken der erotischen Weltliteratur und
Werken minderer Qualität, die meine inzwischen pubertären Phantasien beflügelten und in
der Geschichte der "O" gipfelten. Berührungspunkte und Erfahrungen mit
Erniedrigung, Ohnmacht, Schmerz und Leiden gab es also genug. Ich glaube, daß sich
schon sehr früh herauskristallisierte, was mich an SM-Spielen faszinierte: Die
Verfügbarkeit des anderen, um ihm Lust zu verschaffen und an und mit ihm eigene Lust
auszuleben, die damit verbundene Wehrlosigkeit, die es dem Kopf unmöglich machte, die
Kontrolle über das Erleben der Lust zu behalten, die Befreiung von den Schranken einer
sexuelitätsfeindlichen Moral, die in mir war, aber nicht meine war, der Wunsch nach
tiefem Vertrauen und Hingabe einer Partnerin. Was sich jetzt wie ein klares Konzept
persönlicher Entwicklungen lesen mag, ist das Ergebnis von nicht weniger als einem
Vierteljahrhundert persönlicher Irrungen und beziehungsreichen Wirrungen, halbherzigen
bis feigen Versuchen, dem dunklen Verlangen in mir nach noch unklaren Gelüsten, die
auszusprechen ich niemals gewagt hätte, nachzugeben, jahrelangem Verdrängen und
kunstvoller Rationalisierung im Kopf, daß "so etwas" ja schließlich pervers
sei, wobei Bilder und Wünsche in meinem Kopf immer wieder auftauchten und sich
festsetzten.
Zaghaften Versuchen über einschlägige Magazine und Kontaktanzeigen Menschen
ähnlicher Neigungen zu finden, denen regelmäßig herbe Ernüchterung folgte, weil die
Reaktionen entweder ganz ausblieben oder zwanglos in ein Kompendium menschlichen Elends
hätte aufgenommen werden können, schloß sich eine lange Phase der Resignation an. Erst
der Zugang zum Internet änderte die Situation radikal. Die Vielzahl von Websites, die
sich mit BDSM beschäftigten führten mich auch zum IRC, dem Internet Relay Chat, und
damit zu einer Möglichkeit authentischer und direkter Kommunikation mit Menschen, die
sich auch und aus denselben Gründen wie ich mit BDSM beschäftigten. Ich danke noch heute
dem gütigen Schicksal, das mich zu diesem neuen Medium führte, das unter dem
Schutzmantel freundlicher fast-Anonymität den Austausch von Erfahrungen, Wünschen und
Phantasien ermöglichte. Dort traf und fand ich das erstemal in meinem Leben andere
Menschen, die nicht nur dachten, empfanden und fühlten wie ich, und damit mein schon als
endgültig angesehenes Schicksal gnadenloser Vereinzelung aufhoben, dort waren auch
Menschen, die das, was sie wollten, taten, erlebten und nach durchschnittlichen
Moralvorstellungen auch ziemlich unschicklich, aber in vollen Zügen genossen.
Der Rest ist schnell erzählt: Nach zwei, drei Monaten regelmäßigen Besuchs im IRC
folgten die ersten Treffen mit Menschen, die ich dort kennengelernt hatte, wobei sich
diese Menschen in den meisten Fällen als ebenso außergewöhnlich wie liebenswert
darstellten, es kam zur ersten Teilnahme an einer SM-Fete, deren Atmosphäre ich wie ein
ausgetrockneter Schwamm das Wasser in mich aufsog, intensive und offene Gespräche über
Wünsche, Vorlieben, Grenzen und Empfindungen und schließlich das erste Date mit einer 16
Jahre jüngeren Frau. Um Spekulationen vorzubeugen : Nein, ich bin kein Kinderschänder,
ich war 44, sie 28. Da BDSM im Wesentlichen zwischen den Ohren stattfindet werde ich mich
jetzt nicht in lustvollen Details ergehen, aber es waren drei aufregend schöne,
harmonische und intensive Tage, die ich in meinem Leben nicht missen möchte, auch wenn es
mir heute noch peinlich ist, daß ich trotz halbstündiger Suche im ganzen Haus kein
Feuerzeug fand, um eine Kerze anzünden zu können. Wachsspiele stellen an die
organisatorischen Fähigkeiten eines Tops doch erhebliche Ansprüche. Nach der Erfahrung
dieser drei Tage hat sich mein Leben geändert: ich wußte, daß mir BDSM tatsächlich
Spaß macht, ich wußte, daß es keinen Grund gab und gibt mich für diese Praktiken zu
schämen, die ich im vollen Einvernehmen mit meinen Partner(inne)n genieße, ich wußte,
daß ich auf diesen Bereich als Teil meiner Sexualität nicht mehr würde verzichten
wollen, ich wußte, daß ich einen weiteren Schritt gegangen war, um zu verstehen, wer ich
bin.
Die Kontakte zu meinen bisherigen Freunden außerhalb der "Szene" haben sich
weiter reduziert, meine Ehe ist in Auflösung begriffen, wofür BDSM nur zu einem
gewissen, aber nicht essentiellen Teil verantwortlich ist. Mein Selbst ist runder geworden
und ruhiger. Das Outing findet wenn, dann nur gezielt statt, was zum einen daran liegt,
daß ich als Jurist in einer bayerischen Stadt nicht unbedingt in einen öffentlichen
Diskurs über meinen Lebensstil verwickelt werden will, zum anderen daran, daß die
Menschen, die mir heute wichtig sind, fast alle aus der "Szene" sind oder
zumindest wissen, was mich interessiert. Mein älterer Bruder hat mir spontan eine nicht
unbeachtliche Sammlung themenbezogener Videokassetten geschenkt, als ich mich ihm
gegenüber outete, mein damals 78jähriger Vater kommentierte meine verspätete
Lebensbeichte mit dem ihm eigenen liebevollen Schmunzeln "also Sachen macht ihr, na
ja, das wäre jetzt nichts mehr für mich" was ich als väterlichen Segen
interpretierte und mich moralisch gestärkt und innerlich bestätigt hat.
Heute bewege ich mich in der Szene, kritisch, weil es auch hier Verhaltensweisen und
Strukturen gibt, die hinterfragt werden müssen, liebevoll, weil ich sehr viele liebevolle
und liebenswerte Menschen dort treffe, die verantwortungsbewußt mit sich, ihrer Lust,
ihrem Körper und Ihren Gefühlen und ihren Partnern umgehen, vorsichtig, weil die
Tatsache, daß jemand BDSM praktiziert ihn natürlich per se nicht zu einem
vertrauenswürdigen Menschen macht, aufmerksam, weil ich gerade in diesem Bereich Menschen
treffe, deren Seelen verletzt und mißbraucht worden sind, bevor sie BDSM auch als
therapeutische Katharsis zu erleben suchen.
Mit BDSM ist es wie mit allem, was einen reizt, bewegt, erschreckt: es ist
vernünftiger es auszuprobieren, als ein Leben lang danach zu lechzen. Ob es etwas für
einen ist, weiß man, nachdem man es versucht hat und sich in eine schwarze Lederhose zu
zwängen und auf eine Fete zu gehen ist im allgemeinen nicht gefährlicher als in das Zelt
vom Schottenhamel auf dem Münchner Oktoberfest, wenn man sich vorher informiert, ein paar
Grundregeln über Sicherheit beachtet und den Schlüssel für seine Handschellen nicht
verliert. Und selbst dann wird man überrascht feststellen, wie viele Menschen dieses
Einheitsschlüsselchen für die deutschen Einheitshandschellen an ihrem Schlüsselbund
tragen.
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